Schauplätze der Rotkreuzgeschichte

„Tutti fratelli!“

Castiglione delle Stiviere
Collage: Rollstuhl in Rotkreuzmuseum, Dächer der Stadt

Nach der Schlacht von Solferino im Sommer 1859 sind Abertausende von Verwundeten auf dem Schlachtfeld verblieben, ohne Wasser, ohne Hilfe und ohne Hoffnung. Die, die noch transportfähig sind, werden nach und nach ins nahe Städtchen Castiglione gebracht. Dort nimmt zur gleichen Zeit Henry Dunant im Stadthaus der Familie Pastorio Quartier, ein Genfer Kaufmann, der sich eigentlich in den Kopf gesetzt hat, bei Napoleon III. vorzusprechen. Doch sein Schicksal nimmt einen anderen Weg.

Vom schmalen Balkon seines Zimmers aus blickt er auf den Dom und dessen Vorplatz. In aller Eile ist die wuchtige Kirche zum Behelfskrankenhaus umfunktioniert worden, und von weither treffen nun Scharen von Verwundeten ein. Bald ist auch der Kirchplatz dicht gedrängt mit Versehrten, Sterbenden und Toten. Doch nur wenige Ärzte sind verfügbar. Dunant versucht, „gemeinsam mit einigen hiesigen Frauen die Ärzte notdürftig zu ersetzen“. Sie verteilen Wasser und Suppe, bandagieren Wunden, besorgen Wäsche, spenden Zuspruch und Trost. Das tausendfache Elend erschüttert Dunant zutiefst: „Seit drei Tagen sehe ich inmitten unerhörten Leids, wie alle Viertelstunde eine Seele die Welt verläßt.“

Den engagierten Frauen von Castiglione verdankt das Rote Kreuz auch seinen ersten Schlachtruf: Tutti fratelli! Es sind alles Brüder. Mit diesen Worten entschärfen sie kurzentschlossen etwaige Loyalitätskonflikte und entscheiden sich, Dunants Beispiel folgend, Franzosen wie Österreichern unterschiedslos zu helfen. Drei Jahre später hält er die Geschehnisse in seiner Erinnerung an Solferino fest, die bald darauf zur Initialzündung für die Entstehung des Roten Kreuzes wird.

Das Zimmer, das er damals im Palazzo Bondoni Pastorio bewohnt hat, ist bis heute fast unverändert erhalten geblieben, mit Diwan und Kommode im Empire-Stil, mit Deckenbemalung, mit Kachelöfchen und Betschemel. Auch weit über das historische Erbe hinaus strahlt die im Haus beheimatete Stiftung als Kultur- und Bildungseinrichtung in die Region hinein aus. Am Domplatz endet auch die alljährliche Fiaccolata, der Fackelzug von Solferino nach Castiglione, mit dem viele tausende von Rotkreuzangehörigen aus aller Herren Länder den Jahrestag der Schlacht begehen und an Dunants Samaritertum erinnern.

In einem anderen alten Patrizierhaus ist das Rotkreuzmuseum von Castiglione untergebracht, das den Weg dieser Hilfsorganisation bis in die Gegenwart nachzeichnet. Die ältesten Exponate lassen die Gründerjahre auferstehen. Was auf den ersten Blick wirkt wie die Instrumente eines Folterknechts, entpuppt sich als Besteckkasten eines Feldchirurgen: Skalpelle, Sonden, Gefäßklemmen, eine Säge und eine Fräse, um Projektile aus einem Knochen zu entfernen.

Das Souterrain beherbergt eine ungewöhnliche Oldtimersammlung: Pferdebahren und Krankenkarren in den verschiedensten Ausführungen, mit mannshohen Rädern und ausgetüftelter Mechanik, um Stöße abzufedern. Das Museum verkörpert auch selbst ein Stück Rotkreuzgeschichte: Es wurde 1959 vom damaligen Bürgermeister begründet, der fünf Jahre zuvor aus russischer Kriegsgefangenschaft heimgekehrt war, als einer der letzten Italiener. Nur aufgrund einer Postkarte des Suchdienstes vom Roten Kreuz wussten Angehörige und Behörden, dass er noch am Leben war. Zum 100. Jahrestag der Schlacht rief er dann dieses stimmungsvolle Museum ins Leben.

StS

Adresse & Öffnungszeiten

Palazzo Bondoni Pastorio
via Marconi 34
I – 46043 Castiglione delle Stiviere

Besichtigung auf Anfrage

Tel. 0039 347 4628124
info(at)fondazione-bondonipastorio(dot)eu
www.fondazione-bondonipastorio.eu

Museo Internazionale della Croce Rossa
Via Garibaldi, 50
I – 46403 Castiglione delle Stiviere (MN)

Tel: 0039 0376 631107
E-Mail: info(at)micr.cri(dot)it
https://micr.cri.it

Tipps & Links

Anreise: Mit der Bahn bis Desenzano del Garda. Die nächstgelegenen Städte sind Brescia und Mantova, die nächsten Flughäfen Verona, Bergamo und Brescia-Montichiari. Mit dem Auto auf der A4 Venedig – Mailand die Ausfahrt Desenzano nehmen, dann die Via Mantova Richtung Castiglione bzw. Solferino.

Auch sehenswert: Nur wenige Kilometer weiter nördlich liegt das Südufer des Gardasees, wo sich alpine und mediterrane Landschaft betörend verbinden. Als Zentrum der Region fungiert Verona. Mit seiner pittoresken Altstadt, den vielen Kirchen und Palazzi sowie dem berühmten römischen Amphitheater lohnt es in jedem Fall einen Besuch.

Weitere Orte zu den Anfängen des Roten Kreuzes: Flensburg (Löwenapotheke), Hamburg (Börse und Rauhes Haus), Kronshagen bei Kiel, Langensalza, Stuttgart (Dunant-Denkmal).

Buchtipp: Stefan Schomann, Im Zeichen der Menschlichkeit. Geschichte und Gegenwart des Roten Kreuzes, München 2013

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