Zwei Jahre nach dem Beben: «In Haiti geht es ums Überleben»

Portrait von Astrid Nissen
Astrid Nissen, Leiterin des DRKBüros in Haitis Hauptstadt Port-au-Prince

Vor zwei Jahren, am 12. Januar 2010, traf ein schweres Erdbeben Haiti - eines der ärmsten Länder der Welt. Mehr als 220 000 Menschen starben, über eine Million wurde obdachlos. Trotz leichter Verbesserungen für die Bevölkerung sei die Armuts- und Ernährungssituation kritisch, sagte Astrid Nissen, Büroleiterin des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) in Haitis zerstörter Hauptstadt Port-au-Prince, der Nachrichtenagentur dpa.

Haben die vielen Millionen an Hilfsgeldern aus aller Welt bisher etwas an Haitis Lage ändern können?

Nissen: «Nein, noch nicht in ausreichendem Maße. Die Armuts- und Ernährungssituation ist für die Mehrheit der Bevölkerung nach wie vor kritisch. In der Hauptstadt Port-au-Prince und anderen Zentren ist die Lage sehr problematisch. Dort herrscht vielfach Unterversorgung, Lebensmittel fehlen. Familien stecken ihre wenigen finanziellen Ressourcen oft in Schulgeld und Anschaffungen, aber an der Ernährung sparen sie. Im ländlichen Bereich sehe ich bei der Ernährung dagegen eine recht positive Entwicklung. Die letzten Ernten waren gut.»

Wie ist die Lage in den Zeltstädten, in denen immer noch eine halbe Million Menschen leben?

Nissen: «Die Zustände in den Camps sind teilweise schlimm. Menschen leben da seit zwei Jahren unter widrigsten Umständen. Es gibt inzwischen nur noch einen Minimalservice wie Trinkwasser, Toilettenreinigung und teilweise medizinische Versorgung. Das gilt aber nur für etablierte Camps. 15 Prozent aller Zeltstädte hatten nie eine Organisationsstruktur. Dort ist die Versorgung noch kritischer. Gewalt gegenüber Frauen und Kindern ist ein Problem. Es geht auch um Kriminalität, weil sich Kriminelle in diesen unübersichtlichen Strukturen verstecken. Auch deshalb ist es der Regierung ein dringendes Anliegen, Familien aus diesem Chaos zu holen und die Camps
schrittweise aufzulösen.»

Wie kommt der Wiederaufbau voran?

Nissen: «Da sehe ich im Vergleich zum vergangenen Jahr deutliche Fortschritte. Die Hälfte der Trümmer ist weggeräumt. Die Eigentumsrechte, an denen lange viel gescheitert ist, sind langsam geklärt. Mehr Baumaterialien werden eingeführt. Die Zahl der fertiggestellten Wohnhäuser wächst. Der ganze Wiederaufbau-Prozess hat viel mehr Fahrt aufgenommen.»

Wie sieht der Alltag für Familien aus, wie ist die Stimmung?

Nissen: «Der Alltag wird weiter durch den täglichen Überlebenskampf geprägt. Viele Familien fragen sich, wie sie die Mittel für eine Mahlzeit am Tag auftreiben können. Es gibt ja kaum Jobs. Deshalb versucht jeder irgendwo irgendetwas zu verkaufen - und seien es nur Bananenstauden von Verwandten auf dem Land. Das ist nicht nur energieraubend, das ist auch sehr frustrierend. Es gibt keinerlei Sicherheiten und kein Auffangnetz, man fällt sehr schnell sehr tief. Die Stimmung ist trotzdem besser als im letzten Jahr. Inzwischen gibt es einen Präsidenten und eine Regierung. Es gibt zwar noch keine unmittelbaren Ergebnisse, aber die Politik zeigt Dynamik. Es gibt wieder Hoffnung, dass die Regierung dazu beitragen könnte, die Dinge zu verbessern.»

Wie lange braucht Haiti noch Hilfe aus dem Ausland?

Nissen: «Wenn Unterstützung und Wiederaufbau in diesem Maße weitergehen und die politische Stabilität erhalten bleibt, definitiv noch mindestens drei Jahre. Es geht ja nicht nur darum, dass Menschen wieder ein Dach über dem Kopf bekommen. Damit löst man wenig. Viele strukturelle Probleme gab es ja schon vor dem Beben. Deshalb schieben wir weitere Maßnahmen parallel mit an. Dazu gehören die Themen Gesundheit, Wasser, Hygiene, Katastrophenvorsorge und vor allem Jobs. Die Erdbebenhilfe des DRK wird bis ins Jahr 2013 fortgeführt, die Planungen für ein mittelfristiges Engagement haben begonnen. Dafür brauchen wir auch weiter Spenden.» Interview: Ulrike von Leszczynski, dpa

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