Vor Kurzem habe ich eines der Privilegien genießen dürfen, die es mit sich bringt, Generalsekretär des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) zu sein. Ein- oder (lieber) zweimal im Jahr nehme ich mir die Zeit, um unsere internationale Arbeit, unsere Hilfeleistungen und vor allem auch unsere Mitarbeitenden weltweit vor Ort zu besuchen. Dieses Mal ging es zusammen mit Christof Johnen, unserem Leiter Internationale Zusammenarbeit, zu unseren Rotkreuz-Schwestergesellschaften in Honduras und Guatemala, denn Mittel- und Südamerika sind seit vielen Jahren wichtige und stetig wachsende Einsatz- und Hilfsgebiete für das DRK.
Auf dem Rückflug hoch über den Wolken habe ich noch einmal die Möglichkeit, mit etwas Ruhe (und bevor der Jetlag das unmöglich macht) über die Eindrücke und Erfahrungen meiner Reise nachzudenken und einige (natürlich wie immer zu wenige) Schlussfolgerungen zu ziehen.
Wenn es uns nicht gäbe, müsste man uns heute erfinden! 191 Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften, und in praktisch jedem Land der Welt gibt es eine, durch den jeweiligen Staat anerkannte Nationale Rotkreuz- oder Rothalbmondgesellschaft. Diese ist immer als Auxiliar der Behörden und freiwillige Hilfsgesellschaft im humanitären Bereich tätig, aber - und dieses ist mir ganz wichtig - im Rahmen und unter Einhaltung unserer Rotkreuzgrundsätze: Menschlichkeit, Unparteilichkeit, Neutralität, Unabhängigkeit, Freiwilligkeit, Einheit und Universalität. Und es ist schön zu sehen, dass die Grundsätze global bei uns gelebt und ernst genommen werden. Aber wäre heute noch bei der Staatengemeinschaft der politische Wille und die Kraft vorhanden, so etwas zu erschaffen? Ich weiss es nicht.
Mit unseren Schwestergesellschaften, dem Honduranischen Roten Kreuz (HRK) und dem Guatemaltekischen Roten Kreuz (GRK), verbindet uns eine jahrelange Partnerschaft zu unterschiedlichen Schwerpunkten, wie vorausschauender humanitärer Hilfe, Migration und WASH, die Abkürzung für "Water, Sanitation and Hygiene". Und die Arbeit zu eben diesen Schwerpunkten konnten Christof Johnen und ich uns vor Ort genauer anschauen. Solche Reisen sind vor allem eine Möglichkeit für mich, unsere Bewegung und ihre vielfältigen Tätigkeiten live zu erleben, zuzuhören und aus dem Erlebten zu lernen. Während ich über die Details der Reise in meinem LinkedIn-Profil ausführlich berichtet habe, möchte ich hier vor allem teilen, was ich aus der Reise mitgenommen habe.
Honduras, eines der ärmsten Länder in der Region, muss einen jährlichen Strom von gut 500.000 Menschen bewältigen, die auf dem Weg nach Norden durch das Land reisen und häufig humanitäre Hilfe benötigen. Eine riesige Herausforderung für ein armes Land mit gut 10 Millionen Einwohnern. Das Honduranische Rote Kreuz spielt dabei eine wichtige Rolle – eine, die mich an unsere Rolle als Deutsches Rotes Kreuz in der Bevölkerungsbewegung 2015 erinnert und mit sehr gemischten Gefühlen zurücklässt. Auf der einen Seite bin ich bei meinem Besuch im humanitären Servicepoint für Migranten in Danlí, Honduras, beeindruckt von der Leistung der vielen Engagierten vor Ort. Auf der anderen Seite ist es ein weiteres Beispiel dafür, dass die Welt in Unruhe und aus dem Gleichgewicht geraten ist und das Erlebte stimmt mich nachdenklich, wie wir diesen Problemen begegnen.
Es sollte uns eine Mahnung sein, wenn Menschen, nicht nur aus Latein- und Mittelamerika, sondern aus vielen Ländern Afrikas, aus Afghanistan, Indien, sogar aus China über unterschiedliche Länder nach Süd- und Mittelamerika kommen, um dann Richtung Norden, Richtung USA und Kanada weiterzureisen. Diese Wegstrecke ist gefährlich, nicht wenige setzen ihr Leben und das Leben ihrer Lieben aufs Spiel. Viele verlieren Hab und Gut, sexuelle Gewalt gegen Geflüchtete (Frauen, Männer und Kinder) ist an der Tagesordnung. Das ist ein unerträglicher Zustand und verdeutlicht einmal mehr, dass wir dringend Wege finden müssen, die Ursachen für Migrationsbewegungen, wie den Klimawandel oder bewaffnete Konflikte zu bekämpfen.
Erlebnisse wie diese zeigen aber auch, wie wichtig es ist, dass die Internationale Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung dort humanitäre Hilfe, alleine nach dem Maß der Not, leistet. Das gibt Kraft und Mut in Zeiten großer Herausforderungen.
Apropos Ursachenbekämpfung. Einen wichtigen Beitrag dazu, Katastrophen und Krisen schnell unter Kontrolle zu bekommen, leistet die vorausschauende humanitäre Hilfe. Sie dient dazu, die Bevölkerung und auch die humanitären Akteure in Regionen, die beispielsweise regelmäßigen Extremwetterereignissen ausgesetzt sind, auf den Umgang mit diesen vorzubereiten. Dazu gehören Early Action Protocols (EAP – oder Frühwarnprotokolle) als zentrale Komponenten. Als sich Ende 2022 der tropische Sturm Julia der Region näherte, wurde das EAP in Santo Tomás de Castilla in Guatemala, erstmals erfolgreich (und sehr schnell!) aktiviert und die Hilfe konnte beginnen, noch bevor der Sturm über die Region hinwegfegte. Ein echter Erfolg für die vorausschauende humanitäre Hilfe, der Menschenleben rettete.
Das GRK ist eine der Schwestergesellschaften, die die vorausschauende humanitäre Hilfe mit dem DRK seit Jahren konstruktiv und positiv weiterentwickelt. Nur durch die Erfahrungen der lokalen Helfenden in herausfordernden Kontexten wie hier im Osten Guatemalas können wir die unverzichtbare Verknüpfung von Methodenentwicklung und Anwendung gewährleisten. Dieser Besuch bestärkt mich darin, dass vorausschauende humanitäre Hilfe die Zukunft ist, und er bestärkt mich darin, dass es wichtig ist, unsere Nationalgesellschaften weltweit zu stärken und ihnen dabei zu helfen, resilienter im Umgang mit Krisen zu werden.
Es geht hier um einen Austausch auf Augenhöhe, ein Voneinander und Miteinander Lernen und eine echte Partnerschaft. Sowohl mit dem GRK und dem HRK ist dies gegeben und ich kehre beeindruckt von den Menschen vor Ort und ihrer herausragenden Arbeit zurück von einer Woche, die mir noch lange in Erinnerung bleiben wird. Mir ist aber am Ende meiner Reise nicht bange bei all diesen Herausforderungen.
Text: Christian Reuter, Fotos: Natalie Acosta / Christof Johnen / DRK