Knapp vier Wochen war ich im Mai in der Ukraine als Notfallsanitäter in Odessa für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) im Einsatz. Da es nicht mein erster Auslandseinsatz war, wurde ich als Teamleader eingesetzt. Somit zählte zu meinen Aufgaben:
Wichtigste Aufgabe des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) in einem Konflikt ist die Überwachung und Durchsetzung der Einhaltung der Genfer Konventionen. Ferner ist der wichtigste Grundsatz die Minderung menschlichen Leidens.
Aufgrund der komplexen Ausgangslage wurden im Rahmen dieses Einsatzes Rettungswagen zum Transport Verletzter oder Kranker eingesetzt. Die Teams waren in der Regel Israelisch-Deutsch besetzt. Diese Zusammenarbeit fand so zum ersten Mal statt, sozusagen ein Pilotprojekt. Die israelischen Kollegen haben den großen Vorteil, dass sie Russisch sprechen und sich somit vor Ort in einer weitgehend geläufigen Sprache direkt verständigen können. Untereinander haben wir in Englisch kommuniziert. Es war eine sehr konstruktive und tolle Zusammenarbeit und es sind neue Freundschaften entstanden.
Zu unserer Sicherheit war das Zustandekommen eines Transports meistens ein recht komplexer Vorgang. Hilfsanfragen wurden meist über das Ukrainische Rote Kreuz an uns gerichtet. Dafür war der sogenannte „Field Officer“ des IKRK zuständig. Wenn wir signalisierten, dass wir den Transport übernehmen könnten, wurden zuerst der Abholort und die Fahrstrecke unter Sicherheitsaspekten überprüft. Auch wurde der Verantwortliche für Logistik über Erkenntnisse zur Befahrbarkeit der Straßen befragt. Wenn diese Faktoren positiv bewertet wurden, gab der Leiter der Delegation den Auftrag frei und wir konnten je nachdem an die Planung bzw. die Durchführung gehen.
Die Menschen, die wir transportiert haben, waren nicht oder nur eingeschränkt gehfähig und mussten aus Bereichen nahe der Kampflinie ins sichere Landesinnere gefahren werden. Wir transportierten u.a. eine 97-jährige Frau, deren Sohn durch Bombensplitter verwundet worden war und sie deshalb nicht mehr pflegen konnte. Wir brachten sie aus der immer wieder umkämpften Stadt in eine sicherere Umgebung.
Die zu meiner Zeit vom Aufwand her größte Herausforderung war die Organisation des Transports eines Krebspatienten, dessen Haus durch einen Raketenangriff abgebrannt war. Er hatte schon die Zusage für eine Behandlung in einer Klinik in Deutschland. Unsere Aufgabe bestand darin, ihn bis Chisinau in der Republik Moldau zu bringen; eine Strecke von fast 1.500 Kilometern. In drei Abschnitten mit zwei Übernachtungen konnte der Transport dann erfolgreich durchgeführt werden. Inzwischen erhielten wir auch die Nachricht, dass er gut in der Zielklinik angekommen ist. Solche Rückmeldungen freuen uns sehr.
Natürlich ist so ein Einsatz grundsätzlich gefährlicher als der Alltag in meinem Rettungsdienst im Landkreis Waldshut. Das Rote Kreuz achtet sehr auf die Sicherheit der eingesetzten Kräfte. Es gibt regelmäßig Sicherheitsbriefings und Festlegungen, in welche Gebiete gefahren werden darf und welche für uns tabu sind. Relativ oft wurden Sirenen als Warnung ausgelöst, selten kam es dann aber tatsächlich zu Detonationen.
Mir bleibt eine Nacht Anfang Mai in Odessa im Kopf als von mehreren auf die Stadt abgefeuerten Raketen drei einschlugen. Die Detonationen hört man nicht nur, man spürt auch die Druckwelle. Da ist schon etwas unheimlich.
Überhaupt lebt man immer in einer gewissen Anspannung. Vor dem Schlafengehen habe ich immer meinen Notfallrucksack und Kleider für den Fall eines Bombenalarms bereitgelegt. In jeder Unterkunft war die erste Frage, die nach dem Schutzraum. Nach den vier Wochen war ich sehr dankbar, dass ich den Konflikt „hinter mir lassen konnte“. Ein Privileg, das viele Menschen in der Ukraine nicht haben.
Natürlich hat sich meine Frau sehr große Sorgen gemacht. Sie sorgt sich ja schon, wenn ich in ein Katastrophengebiet ohne bewaffneten Konflikt reise. Um ihr die Sorgen ein wenig zu nehmen, haben wir mindestens einmal täglich telefoniert. Wenn irgendwelche Vorkommnisse passierten, von denen ich ausgehen musste, dass Medien eventuell darüber berichten, habe ich extra eine Nachricht geschickt, dass es mir gut geht. Zum Beispiel nach der oben angesprochenen Nacht. Das hat ihre Sorge um mich zumindest gelindert.
Sehr berührend für mich war ein Besuch in einer großen Einrichtung für Menschen mit Behinderung. Wir waren dort, um über eine mögliche Evakuierung der dort betreuten Menschen zu sprechen und den nötigen Aufwand zu beurteilen. Die Leiterin präsentierte stolz ihr wirklich beachtliches Lebenswerk und man merkte ihr an, wie schwer ihr diese Besprechung fiel. Sie beendete das Meeting mit dem Satz: “Ich habe jetzt nur noch zwei Instanzen, denen ich vertrauen kann: Gott und das Rote Kreuz.” Solche Aussagen gehen sehr tief und machen sehr demütig.
Auslandseinsätze sind mir persönlich sehr wichtig, weil der Bedarf an Hilfe in Katastrophen- und Krisengebieten sehr groß ist. Und sie helfen mir, dankbar zu sein für das, was ich hier habe. Was mich in diesem Einsatz immer wieder beschäftigt hat ist, wie hier Menschen Menschen schaden. Eine Naturkatastrophe kann ich nicht abstellen. Aber Menschen, die gegen Menschen agieren, dafür habe ich kein Verständnis.
Meinem Arbeitgeber, dem DRK-Rettungsdienst Bad Säckingen, und meinen Kolleginnen und Kollegen bin ich sehr dankbar, dass ich für solche Einsätze freigestellt werde und sie meine Dienste dann mit übernehmen.
Fotos: Christoph Dennenmoser