Dr. Anke Biehler* hat als Referentin am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht und als Delegierte und Rechtsberaterin für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz unter anderem in der Demokratischen Republik Kongo gearbeitet. Sie hat über das Vergewaltigungsverbot im bewaffneten Konflikt promoviert.Was wird unter sexueller Gewalt im bewaffneten Konflikt verstanden?
Vereinfacht ausgedrückt, genau das, was die Bezeichnung ausdrückt– sexuelle Gewalt, die in direktem Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt steht. Mit anderen Worten: sexuelle Gewalt, die es ohne den bewaffneten Konflikt nicht geben würde. Der Bericht des VN-Generalsekretärs zu „conflict-related sexual violence“ versteht unter sexueller Gewalt Vergewaltigung, sexuelle Sklaverei, Zwangsprostitution, erzwungene Schwangerschaft, Zwangsabtreibung, Zwangssterilisation, Zwangsheirat und jede andere Form sexuelle Gewalt vergleichbarer Schwere gegen Frauen, Männer, Mädchen oder Jungen, die direkt oder indirekt mit einem (bewaffneten) Konflikt zusammenhängt.
Jede Form der sexuellen Gewalt ist für die oder den Überlebenden ein existentielles Trauma. Deshalb ist es angesichts der Schwere dieser Taten vermessen, die Formen, in denen sexuelle Gewalt vorkommt oder vorkommen kann, untereinander abzustufen.
Eine Differenzierung erscheint mir jedoch wesentlich: Obwohl in fast allen bewaffneten Konflikten sexuelle Gewalt vorkommt, sind die Zahlen der Vorkommnisse sehr unterschiedlich. Das liegt daran, dass manche Kriegführenden sexuelle Gewalt entsprechend den Regeln des humanitären Völkerrechts verbieten und Vorkommnisse entsprechend ahnden, während sich andere über das Verbot hinwegsetzen und / oder sexuelle Gewalt sogar gezielt als Kriegsstrategie einsetzen.
In welchen Situationen tritt sexuelle Gewalt im Zusammenhang mit bewaffneten Konflikten auf? Wird sexuelle Gewalt in bewaffneten Konflikten gezielt eingesetzt? Warum?
Sexuelle Gewalt in bewaffneten Konflikten kann die Tat eines Einzelnen sein. In einer disziplinierten bewaffneten Gruppe/Armee, die sich an die Regeln des humanitären Völkerrechts hält, wird diese jedoch durch die Vorgesetzten geahndet. So bleibt es bei Einzelfällen.
Wenn man von dem Phänomen sexueller Gewalt in bewaffneten Konflikten spricht, denkt man jedoch eher an Massenvergewaltigungen. Beispiele sind etwa die sogenannte „Vergewaltigung von Nanking“ 1937, die Vergewaltigungen deutscher Frauen durch russische Soldaten 1945, die Massenvergewaltigungen und anderen sexuellen Gewalttaten während der Konflikte im ehemaligen Jugoslawien und in Ruanda in den 1990er Jahren oder seit Jahren in der Demokratischen Republik Kongo. Es gibt immer noch (zu) wenig Forschung über die Ursachen von sexueller Gewalt in bewaffneten Konflikten. Fest steht jedoch, dass sie besonders häufig und grausam in Konflikten mit einer ethnischen Komponente vorkommt. Massenvergewaltigungen verbunden mit anderen Formen sexueller Gewalt in bewaffneten Konflikten sind ein sehr effektives Mittel, um eine Gesellschaft, ganz besonders wenn diese eher konservativ ist, zu zerstören: Einerseits sind vergewaltigte Frauen nicht mehr ehrbar und daher im Extremfall von ihren Familien zu verstoßen, andererseits sind sie häufig so traumatisiert, dass allein dies die Chance, Kinder zu bekommen, verringert. Auch für die Väter und Ehemänner der betroffenen Frauen, die manchmal noch den Übergriffen beiwohnen müssen, sind solche Erlebnisse ein Trauma mit entsprechenden Auswirkungen auf das Familienleben. Zum Teil werden auch Motive wie Rache angenommen oder das Bedürfnis einer Gruppe, sich als die ‚Stärkeren’ zu fühlen, angenommen
Verbietet das humanitäre Völkerrecht den Einsatz sexueller Gewalt im bewaffneten Konflikt?
Sexuelle Gewalt in jeder Form ist durch das humanitäre Völkerrecht verboten. Art. 27 Abs. 2 IV. Genfer Abkommens schützt Frauen explizit vor Vergewaltigung, „Nötigung zur gewerbsmäßigen Unzucht“, also Zwangsprostitution sowie „jeder anderen unzüchtigen Handlung“. Darüber hinaus ergibt sich das Verbot sexueller Gewalt im internationalen bewaffneten Konflikt aus dem Gebot der menschlichen Behandlung (Art. 27 Abs. 1 IV. Genfer Abkommen). Sexuelle Gewalt stellt in aller Regel einen „schweren Verstoß“ gegen die vier Genfer Abkommen dar, den die Mitgliedstaaten der vier Genfer Abkommen von 1949 strafrechtlich verfolgen müssen (Art. 146, 147 IV. Genfer Abkommen).
Im nicht-internationalen bewaffneten Konflikt ist sexuelle Gewalt als „Beeinträchtigung der persönlichen Würde, insbesondere entwürdigender und erniedrigender Behandlung, Vergewaltigung, Nötigung zur Prostitution und unzüchtige Handlungen jeder Art“ einerseits explizit verboten, andererseits umfasst das Verbot der „grausamen Behandlung“ auch ein Verbot sexueller Gewalt (Art. 4 Abs. 2 a) und e) ZP II).
Selbst in Fällen eines nicht-internationalen bewaffneten Konflikts, in dem das ZP II nicht anwendbar ist, ergibt sich das Verbot von sexueller Gewalt aus dem gemeinsamen Artikel 3 der vier Genfer Abkommen. Dieser verbietet als Ausfluss des Gebots der menschlichen Behandlung sowohl „grausame Behandlung und Folterung“ sowie die „Beeinträchtigung der persönlichen Würde“, namentlich „erniedrigende und entwürdigende Behandlung.“ Zusammengefasst gilt also, dass sexuelle Gewalt im bewaffneten Konflikt – unabhängig von dessen Qualifizierung - immer verboten ist.
Werden Verstöße gegen das (humanitär-) völkerrechtliche Verbot sexueller Gewalt strafrechtlich verfolgt?
Sexuelle Gewalt und Vergewaltigungen im Zusammenhang mit einem bewaffneten Konflikt sind in aller Regel „unmenschliche Behandlung“ oder „vorsätzliche Verursachung großer Leiden oder schweren Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit oder der Gesundheit.“ Als solche sind sie schwere Verletzungen der Genfer Abkommen.
Nach den Genfer Abkommen sind die Staaten verpflichtet, schwere Verstöße gegen diese unter Strafe zu stellen und entsprechend in ihrem Hoheitsbereich zu verfolgen. Außerdem ist sexuelle Gewalt im Zusammenhang mit einem bewaffneten Konflikt auch durch verschiedene Tatbestände des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs strafbar. Auch daraus ergibt sich eine Verpflichtung der Vertragsstaaten, entsprechende Taten entweder selbst zu verfolgen oder Verdächtige an den IStGH auszuliefern (Grundsatz des „aut dedere aut judicare“).
In den letzten Jahrzehnten sind große Fortschritte bei der Schaffung entsprechender nationaler und internationaler Tatbestände und bei der tatsächlichen Verfolgung von sexuellen Gewaltverbrechen im Zusammenhang mit bewaffneten Konflikten gemacht worden. Ob die Taten aber tatsächlich auch verfolgt werden, hängt am politischen Willen der beteiligten Staaten und letztlich auch dem der Weltgemeinschaft.
Was sind die Herausforderungen bei der strafrechtlichen Verfolgung?
Die erste Schwierigkeit bei der strafrechtlichen Verfolgung sexueller Gewalt in bewaffneten Konflikten besteht darin, dass ein politischer Wille hierzu bestehen muss. Wenn dieser besteht, sind die Herausforderungen bei der Verfolgung zunächst einmal die gleichen wie bei anderen völkerrechtlichen Verbrechen auch: Im Allgemeinen ist es schon aufgrund der „Kriegswirren“, in denen die Taten stattgefunden haben, schwierig zu ermitteln, was genau geschehen ist und welchen Anteil daran welcher Täter genau hat. Schließlich müssen auch in Verfahren wegen völkerrechtlicher Verbrechen rechtsstaatliche Grundsätze beachtet werden.
Hinzu kommen Schwierigkeiten, die mit den Besonderheiten sexueller Gewalt zusammenhängen. Überlebende sexueller Gewalt sind in der Regel traumatisiert. Das gilt natürlich insbesondere für Taten, die im Rahmen eines bewaffneten Konflikts begangen wurden. Ferner ist sexuelle Gewalt eigentlich in jeder Kultur mit einem Tabu versehen. Für Überlebende ist es daher schwierig, in der Öffentlichkeit eines Prozesses über die Taten zu sprechen – nicht nur, um eine gesellschaftliche Stigmatisierung zu vermeiden. Zudem kann eine Befragung vor Gericht die Opferzeugen erneut schwer traumatisieren, man spricht dabei von „sekundärer Viktimisierung.“ In diesem Zusammenhang wurden in der Vergangenheit schwere Fehler gemacht, die das Leiden der Opferzeugen erheblich vergrößerten. Es ist daher von nicht zu unterschätzender Bedeutung, Opferzeugen während ihrer Aussage – etwa durch den Ausschluss der Öffentlichkeit während ihrer Befragung oder durch anonyme Videobefragungen – und auch danach beispielsweise durch Geheimhaltung ihrer Identität zu schützen.
Trotz dieser Schwierigkeiten sind viele Überlebende sexueller Gewalt bereit vor Gericht auszusagen. Dies muss durch entsprechende Schutzmaßnahmen gewürdigt werden.
Sind Frauen und Männer gleichermaßen und in gleichem Umfang von sexueller Gewalt in bewaffneten Konflikten betroffen?
Wenn man von sexueller Gewalt im bewaffneten Konflikt spricht, wird immer noch zuerst an sexuelle Gewalt gegen Frauen und Mädchen gedacht. Man weiß, dass es sexuelle Gewalt gegen Männer und Jungen in bewaffneten Konflikten ebenfalls gibt. Hierüber ist jedoch viel weniger bekannt als über sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Frauen. Deshalb ist es auch so schwierig zu sagen, ob das eine oder andere Geschlecht stärker von sexueller Gewalt in bewaffneten Konflikten betroffen ist. Derzeit werden wohl mehr Fälle sexueller Gewalt gegen Frauen und Mädchen als gegen Männer und Jungen verfolgt. Das heißt aber nicht, dass sexuelle Gewalt gegen Männer seltener vorkommt, sondern nur, dass sie seltener verfolgt wird. Ein Grund dafür, dass man weniger über sexuelle Gewalt gegen Männer weiß, könnte darin liegen, dass sexuelle Gewalt gegen Männer mit einer noch größeren Stigmatisierung als gegen Frauen belegt ist. Salopp gesagt passt sexuelle Gewalt einfach nicht zum Bild des „starken Geschlechts.“ Letztlich ist das Geschlecht des Überlebenden auch unwichtig – solange beide Geschlechter Zugang zu Hilfe und Unterstützung zur Aufarbeitung der Taten haben. Dies könnte aufgrund der Stigmatisierung für Männer derzeit noch schwieriger als für Frauen sein. Tatsache ist, dass es sexuelle Gewalt in bewaffneten Konflikten gegen beide Geschlechter gibt und entsprechend verhindert bzw. geahndet werden muss.
Wie kann sexuelle Gewalt in bewaffneten Konflikten verhindert werden?
Leider weiß man immer noch zu wenig über die Ursachen und Ziele sexueller Gewalt in bewaffneten Konflikten, um wirklich bei den Ursachen dieser furchtbaren Praktiken ansetzen zu können. Hier – wie zum Vorkommen sexueller Gewalt gegen Männer und Jungen – ist dringend weitere Forschung nötig. Je genauer man die Motivation der Täter versteht, desto besser und effektiver kann man Maßnahmen und Programme entwickeln, um sexuelle Gewalt zu verhindern. Bis dahin bleibt einerseits nur – nationale und/oder internationale –strafrechtliche Verfolgung der Täter, wohlwissend dass dies wenig Abschreckungswirkung auf potentielle Täter hat. Andererseits muss – nicht nur im bewaffneten Konflikt – ein Kulturwandel stattfinden: Sexuelle Gewalt auch scheinbar harmloser Natur (Bsp. Grabschen) darf nirgendwo hingenommen werden, sondern muss geächtet und verfolgt werden! In diesem Zusammenhang muss auch über die Regeln des humanitären Völkerrechts aufgeklärt werden, die bewaffnete Konflikte eben nicht zum rechtsfreien Raum machen.
Was können Internationale Organisationen unternehmen, um sexuelles Fehlverhalten der eigenen Mitarbeiter bei Einsätzen - z. B. durch das Versprechen von Vorteilen oder das Ausnutzen einer Zwangslage - zu begegnen?
Das Problem des sexuellen Fehlverhaltens von Mitarbeitern Internationaler Organisationen während Auslandseinsätzen ist nicht das gleiche wie sexuelle Gewalt im Zusammenhang mit einem bewaffneten Konflikt – es steht ja nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt. Sexuelles Fehlverhalten ist auch in Entwicklungshilfeeinsätzen zu beobachten. Es tritt – wie Sie bereits erwähnen – meist auch in anderen Formen, nämlich durch das Versprechen oder Beschaffen von Vorteilen oder dem Ausnutzen einer Zwangslage auf, nur selten wird dabei unmittelbare (sexuelle) Gewalt angewandt. Folglich ist sexuellem Fehlverhalten von Mitarbeitern Internationaler Organisationen nicht mit den Regeln des humanitären Völkerrechts zu begegnen. Trotzdem ist sexuelles Fehlverhalten von Mitarbeitern Internationaler Organisationen verboten und entsprechend zu ahnden. Dazu gehört einerseits ein von allen Mitarbeitern zu unterschreibender Verhaltenskodex, der im Falle des Zuwiderhandelns auch disziplinarische Sanktionen vorsieht. Andererseits kann sexuelles Fehlverhalten von Mitarbeitern von vornherein durch eine „Kultur des Hinsehens“ über alle Hierarchien hinweg verhindert werden. Dies gilt übrigens auch für andere, während eines Auslandseinsatzes auftretende, persönliche Probleme eines Kollegen – das klassische Beispiel sind Alkoholprobleme – die vom Schweigen der anderen nicht besser werden. Es muss innerhalb der Organisationen eine Stelle außerhalb der üblichen Hierarchien geben, die jedem Mitarbeiter vertraulich offensteht und Hinweisen auf Fehlverhalten von Kollegen nachgeht. Bei sexuellem Fehlverhalten – wie auch anderen Straftaten – muss eine gelebte Nulltoleranz-Kultur in den Organisationen herrschen.
* Das Interview gibt die persönliche Meinung der Gesprächspartnerin wieder.